Auswandern weil Deutschland absteigt? Stimmt das wirklich?

Auswandern weil Deutschland immer unattraktiver wird?

Ich bin ausgewandert und lebe heute auf Zypern. Ich spreche viel mit anderen Auswanderern und auf meinem YouTube Channel "Homo Oeconomicus" ist dies auch gelegentlich Gegenstand einiger Videos. Dabei genießt Deutschland bei den Meisten einen sehr guten Ruf. Allerdings haben viele das Gefühl, dass die Richtung, in die Deutschland sich entwickelt, nicht mehr zu stimmen scheint.

Subjektive Wahrnehmung

So ziemlich jeder Auswanderer hat seine eigenen Geschichten. "Früher war alles besser"; "Geht alles den Bach runter."; "Das wird irgendwann böse enden." Aussagen wie diese höre ich insbesondere von deutschen Auswanderern. Spreche ich mit nichtdeutschen Auswanderern ist die Sicht auf Deutschland um einiges positiver. Auch ist oft die Sicht auf das eigene Land (welches man verlassen hat) deutlich positiver. Woran liegt das? Die meisten Deutschen haben verschiedene Erfahrungen gemacht, die für sie ausschlaggebend waren zu glauben, dass Deutschland eher auf dem absteigenden Ast ist. Und das kann ich gut nachvollziehen. Geht mir auch so.

Bildungssystem

War Deutschland in der Vergangenheit bekannt für sein ausgezeichnetes Bildungssystem, ist davon heute wohl nicht mehr viel von übrig. Ich erinnere mich gut an meine ersten Makroökonomie Vorlesungen: Ableitungen. Okay, der Mathematikunterricht war schon 4-5 Jahre her, aber nach wenigen Minuten kein Problem mehr. Nicht so bei einigen Kommilitonen (insbesondere aus Westdeutschland). In der eigentlichen Mathematikvorlesung wurde es immer deutlicher: viele Studenten (mich eingeschlossen) waren nicht ansatzweise auf dem Niveau, welches notwendig war. Laut den Professoren wird gefühlt jeder Jahrgang dümmer (bezogen auf die mathematischen Kenntnisse). Ich kann zu diesem Thema dieses Video nur wärmstens empfehlen. Dauert etwas eh es los geht, aber es lohnt sich.

Gesundheitswesen

Ich hatte vor einigen Jahren einen Unfall und mein Fuß war an mehreren Stellen gebrochen. Nach der OP im Krankenhaus ist mir von den Ärzten nahegelegt worden die weitere Behandlung von einem ambulanten Chirurg durchführen zu lassen. Kein Chance. Überall angerufen. Entweder werden keine neuen Patienten aufgenommen oder erst in 6 Monaten. Ich hatte 2 Wochen. Über meinen Zimmergenossen im Krankenhaus, kam ich dann doch noch zu einem ambulanten Chirurgen ("Ich kenne da eine Krankenschwester, ruf mal bei dieser Nummer an und frage nach Schwester XYZ.") Meine Rettung.

Jeder hat so seine Geschichten

Solche Geschichten kennen wahrscheinlich viele. So ist das eben. War es immer so? Ist es ein rein subjektives empfinden, dass Deutschland in immer mehr Bereichen absteigt? Wieso hört man solche Geschichten insbesondere von deutschen Auswanderern?

Hilfe mein Kuchenstück wird kleiner

Ich denke zusammenfassen kann man die Empfindungen von vielen Deutschen mit folgender Überlegung: Der Kuchen wächst nicht mehr. Es geht primär um die Verteilung.
Wer jedoch aufsteigen möchte und dafür sorgen möchte, dass sein Kuchenstück deutlich größer wird, der empfindet eher Gegen- als Rückenwind.

Wo viel Rauch ist, ist auch Feuer

Das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) untersucht im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen die Standortbedingungen von 21 Industrieunternehmen. Und das bereits seit 2006. Die aktuellen Zahlen sind alarmierend für Deutschland. Ist an den Empfindungen der Bürger doch mehr dran als man vermuten könnte?

Standortranking - Kriterien

Folgende sechs Themengebiete werden untersucht.

1) Steuern (hierbei geht es nicht ausschließlich um die Höhe der Steuern, sondern welche Gegenleistungen man dafür erhält)
2) Arbeitskosten, Produktivität und Humankapital
3) Regulierung
4) Finanzierung
5) Infrastruktur und Institutionen
6) Energie

Deutschland stürzt ab

Betrachtet man diese sechs Faktoren zeichnet sich ein düsteres Bild für Deutschland. Man befindet sich in Summe auf Platz 18 von 21 Industrieländern. Nur Italien, Spanien und Ungarn stehen in der Gesamtwertung noch hinter Deutschland.

Dabei belegt Deutschland im Themengebiet Finanzierung unter allen 21 Industriestaaten sogar den ersten Platz. Die überschaubare Staatsverschuldung gekoppelt mit der breiten und überwiegend solide finanzierten Bankenlandschaft sorgen für den oberen Platz auf dem Treppchen. Bei Infrastruktur und Institutionen hat es immerhin auch für den 6. Platz gereicht. Bei allen übrigen Kriterien liegt Deutschland jedoch auf den hinteren Plätzen. Steuern #20; Arbeitskosten, Produktivität, Humankapital #19; Regulierung #19; Energie #18

Besonders bitter wird es allerdings, wenn man sich die Entwicklung Deutschland seit 2006 anschaut. 2006 erzielte Deutschland beispielsweise im Bereich Steuern noch 49 Punkte und landete im internationalen Vergleich auf dem elften Platz. Die Staatseinnahmen sprudeln heute so stark wie nie zuvor - nur stuft das ZEW die Verwendung der Steuergelder in Deutschland als deutlich weniger sinnvoll ein (im Bezug auf die Standortattraktivität Deutschlands).

Deutschland ist der große Verlierer

Seit der erstmaligen Erhebung der Daten im Jahr 2006 hat kein Land so stark an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt wie Deutschland. Die Bundesrepublik belegt den letzten Platz. Kurz vor Deutschland findet sich Großbritannien wieder, welches seit dem Brexit massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. Deutschland hat laut ZEW jedoch noch stärker als Großbritannien an Wettbewerbsfähigkeit verloren und das trotz des Brexits - das ist ein starkes Stück. Der große Gewinner ist im Übrigen Polen, dicht gefolgt von den USA.

Ich habe 2020 für einige Monate in Polen gelebt und war beeindruckt wie Polen sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Die intensivere Beschäftigung mit der wirtschaftlichen Entwicklung Polens, kann ich nur wärmstens empfehlen.

Fazit

Das Gefühl, welches viele deutsche Auswanderer beschreiben, lässt sich durch diese Studie gut mit ZDF (Zahlen, Daten, Fakten) untermauern. Allerdings gibt es sicherlich andere Studien, die zu anderen Ergebnissen kommen. Kennst du welche? Lass es mich gerne in den Kommentaren wissen.

Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass es sich in Ländern, welche zwar vielleicht eine geringere Standortqualität haben, aber diese kontinuierlich verbessern, angenehmer leben lässt. Man hat das Gefühl, dass man Rückenwind hat. Das Empfinden, dass sich alles zum besseren entwickelt. Dieses Gefühl hatte ich in den letzten Jahren in Deutschland leider nicht mehr.